Freitag, 2. März 2012

Shame

© Prokino/ Regie: Steve McQueen
Steve McQueen widmet sich einem Thema, das uns im Film nicht oft begegnet: der Sexsucht. Seine Herangehensweise zeichnet sich dadurch aus, dass er auf eine Ursachensuche und somit eine melodramatische Sozialstudie verzichtet. Auch Lösungsansätze und Alternativen spielen in seiner Geschichte hier keine Rolle. Vielmehr handelt es sich bei Shame um eine emotional Momentaufnahme des Lebens eines Mannes, dessen einzige Triebkraft die Abreaktion seines Sexualtriebs darstellt.

Wie der Name schon sagt, geht es um Scham  und die vielfältigen Phänomene und Effekte dieser komplexen Emotion. Weil Scham immer mit dem Erblicktwerden durch einen anderen verbunden ist, spielen Spiegel und Fenster in McQueens Inszenierung eine besonders prominente Rolle. Die Hauptfigur, Brandon, will sich gleichzeitig vor seinen Mitmenschen verstecken und doch zeigen. Niemand soll herausfinden, von welcher Sucht er getrieben wird und doch macht es eben diese Sucht notwendig, dass er sich auf dem Markt der One-Night-Stands immer wieder bestmöglich positioniert und anbietet. Auch das Erkennen spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Rolle, nicht nur im biblischen Sinne. Brandon (Michael Fassbender) will nicht erkannt werden, weder von anderen, noch von sich selbst. Die Versuche seiner Schwester Sissy (Carey Mulligan) ihn auf sich selbst zurückzuwerfen, ihn zum allegorischen Blick in den Spiegel zu zwingen, rufen nur Aggressionen hervor. 

Steve McQueen schafft es, all diese komplexen Emotionen mit einem Minimum an Handlung und Dialog darzustellen. Bild, Musik und Inszenierung übernehmen die Aufgabe der Wörter. Mit einer ungeheuren Ruhe begleitet die Kamera Brandon auf seinen täglichen und nächtlichen Streifzügen und nimmt uns mit hinein in seine emotionale Welt. Dabei fallen die langen, kaum geschnittenen Szenen auf – oder besser nicht auf – denn obwohl Filme dieser Art nicht unseren Sehgewohnheiten entsprechen und daher oft einen Aufmerksamkeitsverlust des Publikums nach sich ziehen, verlieren wir hier nie auch nur für eine Sekunde das Interesse an der Hauptfigur. Michael Fassbender und Carey Mulligan übertreffen sich gegenseitig in der Demonstration ihres Talents, wenn sie es schaffen, minutenlang ohne Schnitt emotionale Berg- und Talfahrten auf die Leinwand zu bringen. 

Shame ist ein mutiger Film. Nicht nur wegen seines Themas. Auch in der Darstellung wird hier kein Blatt vor den Mund, bzw. die Kamera genommen. Gleich zu Beginn sehen wir Michael Fassbender splitterfasernackt, nicht nur für einen kurzen Augenblick, sondern lange genug, um uns ein gutes Bild von seiner genitalen Ausstattung machen zu können. Für die Sexszenen nimmt sich Steve McQueen genauso viel Zeit wie für alles andere, fängt Brandons Emotionen mit der Kamera ebenso haargenau auf, wie nackte, verschlungene Körper. 

Diese nackten Körper sind jedoch auch ein Wermutstropfen. Bei allem Mut, aller Freizügigkeit und cineastischer Experimentierfreude fehlt Shame die letzte Konsequenz. Alle Menschen in Shame sind schön. Egal, ob Brandon seine Eroberungen auf der Straße, in der Firma oder in der Kneipe macht – alle Damen sind nett adrett, zurecht gemacht, mit perfektem Make-Up und Föhnfrisur. In einer Inszenierung, die so um Authentizität bemüht ist, stellt das meiner Meinung nach einen Bruch und somit ein beträchtliches Manko dar. 

Abgesehen von einem einzigen dramaturgischen Hänger, der mich für einen kurzen Moment aus dem Film hinaus in den Zuschauerraum des Kinos katapultierte, ist Shame ein mehr als nur gelungener Film.

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