Dienstag, 19. Februar 2013

Nachtzug nach Lissabon

Sam Emerson © 2012 Concorde Filmverleih
Eine gute Geschichte macht noch keinen guten Film. Selten war diese Wahrheit so zutreffend wie im Fall von Nachtzug nach Lissabon. Das Potential der Romanvorlage von Pascal Mercier weiß Regisseur Bille August leider kaum zu nutzen und liefert stattdessen eine Verfilmung ab, die auf ihrem Tiefpunkt gar unfreiwillige Komik entfaltet.

Dabei geben die Ereignisse von Nachtzug in Lissabon kaum Anlass zum Lachen. Der Schweizer Lehrer Raimund Gregorius (Jeremy Irons) bewahrt eine ihm unbekannte junge Frau vor dem Selbstmord und kommt hierdurch in den Besitz eines geheimnisvollen Buches sowie eines Zugtickets nach Lissabon. Kurzerhand entschließt sich Raimund diese Reise anzutreten, die unglückliche Frau wiederzufinden und mehr über den Autor des Buches, Amadeu de Prado (Jack Huston), zu erfahren. Das Leben des Portugiesen zieht den bodenständigen Lehrer mehr und mehr in ihren Bann. In Gesprächen mit den engsten Vertrauten des Autors rekonstruiert Raimund Schritt für Schritt dessen aufregende Geschichte. Aber seine Reise führt ihn nicht nur in ein fremdes Leben, sondern auch zu sich selbst.

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The Croods

The Croods © 2012 DreamWorks Animation LLC. All Rights Reserved. 
Die Familie Feuerstein hatte ihrer Zeit nicht nur eine Menge Infrastruktur, sondern vor allem ein soziales Umfeld, in dem sie sich bewegte. Diese Dinge sind den Croods nicht vergönnt: Die Nachbarn sind wilden Tieren und Krankheiten zum Opfer gefallen und die gemeinsame Höhle ist der einzige Luxus der Familie. Dazu kommt, dass sich die Höhlenmenschen auf einer deutlich niedrigeren Entwicklungsstufe befinden. Noch nicht einmal das Feuer haben sie entdeckt. Der fehlende Fortschritt könnte etwas mit Vater Grug zu tun haben, denn dessen Lebensmotto "Alles Gute ist schlecht" motiviert nicht unbedingt dazu, über den eigenen Horizont hinauszuwachsen.

Zum Glück gibt es seine pubertierende Tochter Eep, die – wie jeder Teenager – gegen die elterlichen Regeln rebelliert und in diesem Zusammenhang über den Teller-, oder besser gesagt Höhlenrand schaut. Dabei lernt sie den modernen Menschen Guy kennen, der nicht nur Feuer machen kann, sondern auch vom bevorstehenden Weltuntergang weiß. Eep ist im wahrsten Sinne des Wortes Feuer und Flamme für den jungen Mann und als die ersten apokalyptischen Anzeichen auftreten, überredet sie ihre Familie mit Guy gemeinsam ins "Morgen" zu ziehen. Vater Grug ist weder von der Schwärmerei seiner Tochter, noch von den neumodischen Ideen ihres Angebeteten überzeugt und fühlt sich in seiner Rolle als Familienoberhaupt bedroht. Doch für Streitereien bleibt keine Zeit, denn Erdbeben und Vulkanausbrüche ziehen den Reisenden im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen weg.

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I Used To Be Darker

© Berlinale

Sich selbst finden, sich selbst verlieren, seine Rolle im Leben neu definieren, Menschen gehen lassen und festhalten, alte Wege verlassen, neue beschreiten - all das sind Themen des amerikanischen Independentfilms I Used To Be Darker von Matt Porterfield, der sowohl beim Sundance Festival als auch auf der Berlinale gezeigt wurde und beweist, dass das US-Kino noch so viel mehr zu bieten hat als glatt polierte Hollywood-Blockbuster.

Warum Taryn (Deragh Campbell) aus ihrer nordirischen Heimat abgehauen ist, bleibt ein Geheimnis. Ohne ihre Eltern zu informieren, verbringt sie den Sommer in Ocean City, Maryland. Doch eine ungewollte Schwangerschaft durchkreuzt ihre Pläne. Statt nach Hause zu fahren, sucht sie Zuflucht bei ihrer Tante und ihrem Onkel in Baltimore. Doch Kim (Kim Taylor) und Bill (Ned Oldham) befinden sich selbst in einer Krise und auch ihre Tochter Abby (Hannah Gross) ist durch die Trennung der Eltern aus dem Gleichgewicht geraten. Alle Beteiligten müssen von ihrem altbekannten Leben Abschied nehmen und etwas Neues wagen und alle sind von dieser Herausforderung gleichsam verunsichert. Und so gerät Taryn, statt ein stabiles Refugium vorzufinden, zwischen die Fronten.

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Inch'Allah

© Philippe Lavalette
Der Nahostkonflikt stellt einen der komplexesten Kriegsherde der Welt dar. Die Spannungen zwischen Israel und Palästina haben eine lange Geschichte und die anhaltende Aggression auf beiden Seiten macht ein Urteil darüber, wer an der Situation die Schuld trägt, fast unmöglich. Umso enttäuschender ist es, wenn ein Film wie Inch'Allah nur eine Seite der Medaille beleuchtet, statt das Problem in seiner Gänze darzustellen.

Die kanadische Geburtshelferin Chloe (Evelyne Brochu) arbeitet in einem palästinensischen Flüchtlingscamp in der West Bank, wohnt aber in Israel. Auf beiden Seiten der Grenze hat sie Freunde. Mit ihrer Nachbarin, der Grenzsoldatin Ava (Sivan Levy), zieht sie abends um die Häuser, doch es ist ihre palästinensische Patientin Rand (Sabrina Ouzani), der sie am nächsten steht. Je enger das Verhältnis zu Rand und ihrer Familie wird, desto schwerer fällt es Chloe, neutral zu bleiben. Plötzlich ist sie mitten drin in einem Gedenkmarsch für ein verstorbenes Kind und hilft dabei, Plakate mit Märtyrerparolen aufzuhängen. Als die junge Frau merkt, dass sie diesen fremden Krieg zu ihrem eigenen macht, ist es schon zu spät. Chloe muss Position beziehen. Mit allen Konsequenzen.

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Freitag, 15. Februar 2013

Nobody's Daughter


© Jeonwonsa Film Co.
Ich bin keine Fachfrau für das asiatische Kino, obwohl ich durchaus schon ein paar seiner Vertreter gesehen habe. Es passiert mir immer wieder, dass ich mich bei Filmen aus China, Korea, Japan, Taiwan und so weiter unsicher fühle, weil ich so schlecht einschätzen kann, ob der Humor, den ich wahrnehme, gewollt ist, oder ob ich nur lache, weil mir der asiatische Kulturraum so fremd ist. Ebenso erging es mir in Nobody’s Daughter von Hong Sangsoo.

Eine junge Frau verabschiedet sich von ihrer Mutter, die nach Kanada auswandert. Später trifft sie sich mit ihrem Professor, mit dem sie eine Affäre hat, obwohl dieser verheiratet und vor kurzem Vater geworden ist. Im Laufe des Films beendet sie diese für sie unbefriedigende Verbindung.

Hauptfigur Haewon (Jung Eunchae) geht im Film wichtige Schritte auf Weg vom Kind zum Erwachsenen. Sie verabschiedet sich von ihrer Mutter – ein Akt, den ich eher symbolisch gesehen habe. Sie macht sich von den Eltern unabhängig, spricht davon, eine eigene Wohnung zu beziehen. Ihr Professor Seongjun (Lee Sunkyun) wirkt auf Grund des Altersunterschiedes für mich wie eine Vaterfigur. Auch von ihm muss sich Haewon lossagen, um ihren eigenen Weg zu gehen. Damit wächst sie auch über ihren älteren Liebhaber hinaus, denn während dieser an der Trennung zu zerbrechen scheint, schreitet Haewon gehobenen Hauptes in eine ihr unbekannte Zukunft. Damit reiht sie sich in die Schlange starker Frauenfiguren im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb ein und wird für mich zu einer jüngeren Version der chilenischen Filmheldin Gloria.

Etwas verwirrt hat mich das Spiel von Traum und Realität, mit dem uns Hong Sangsoo immer wieder verunsichert. Mir scheint es unmöglich, diese beiden Sphären im Film klar voneinander zu unterscheiden. Einzelne, auf mich besonders absurd wirkende Episoden, werden relativ deutlich als Trauminhalte dargestellt. Die letzte Einstellung jedoch, die Haewon schlafend in der Bibliothek zeigt, stellte meine bisherige Interpretation wieder komplett in Frage. Vielleicht aber spielt es auch gar keine Rolle, da es nicht um die realen Erlenisse der Hauptfigur, sondern um ihre Persönlichkeitsentwicklung geht.

Nobody’s Daughter ist einer dieser Festivalfilme, die mich einfach nicht vom Hocker reißen, obwohl ich irgendwo in mir drin spüre, dass sie eigentlich gut sind. Aber vielleicht liegt es auch an der langsam einsetzenden cineastischen Übersättigung, dass Hong Sangsoos Film bei mir keinen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte.  


Donnerstag, 14. Februar 2013

Dark Blood


© Berlinale

Eigentlich bin ich etwas zu jung, um mit dem Namen River Phoenix etwas anfangen zu können. Von seinem Tod erfuhr ich aus der Bravo, aber damals hatte ich keine Ahnung, um wen es sich eigentlich handelte. Inzwischen weiß ich das natürlich. Deshalb beschlich mich auch ein merkwürdiges Gefühl als ich mit Dark Blood Rivers letzten Film ansah. Zwanzig Jahre nach seinem Tod hat Regisseur George Sluizer das bereits abgedrehte Material zu einem unvollständigen Kinospielfilm zusammengestellt.

Ob das funktioniert, ist keine ganz einfache Frage. Es kommt wohl darauf an, was man erwartet. River Phoenix verstarb Ende Oktober 1993 in L.A., wo die Innenaufnahmen für Dark Blood gedreht werden sollten. Dementsprechend fehlt in der nun vorliegenden Version ein Großteil der Szenen, die sich in geschlossenen Räumen abspielen. Die Außenszenen waren bereits in Utah abgedreht worden, weshalb der Film, so wie ich ihn nun sehen durfte, fast vollständig unter freiem Himmel spielt.

Das Schauspielerehepaar Buffy (Judy Davis) und Harry (Jonathan Pryce) verbringt seinen Urlaub in der Wüste, besichtigt ehemalige Indianerdörfer und genießt die Abgeschiedenheit. Diese jedoch wird ihnen zum Verhängnis, als sie mitten im Nirgendwo mit einer Autopanne liegen bleiben. Kein Mensch weit und breit. Doch Buffy und Harry haben Glück und treffen den Witwer Boy (River Phoenix), der in der Nähe ein kleines Häuschen bewohnt. Der junge Mann, nach eigener Aussage Achtelindianer (das Wort „Native American“ war offenbar in den 90ern noch nicht so modern), wirkt von Anfang an ein wenig verschroben. Der Tod seiner Frau an den Folgen der in der Umgebung durchgeführten Atomtests hat ihn sehr mitgenommen. Boy rechnet jeden Tag mit dem Weltuntergang und hat sich bestens auf die Apokalypse vorbereitet. Als er Buffy begegnet, glaubt er in ihr eine Seelenverwandte zu entdecken, mit der er nach der atomaren Katastrophe die Erde neu bevölkern möchte. Seine anfängliche Hilfsbereitschaft entpuppt sich als gefährlicher Wahn.

Im Grunde ist Dark Blood ein Psychothriller. Die Story könnte man sich heute durchaus auch als Torture Porn vorstellen. Boy wird immer unberechenbarer und gewaltbereiter, die Lage von Buffy und Harry immer aussichtsloser. Denn da Boy an der schönen Schauspielerin Gefallen gefunden hat, hält sich sein Interesse an der Weiterreise des Paares stark in Grenzen. Weit entfernt von der nächsten Stadt, mitten in der erbarmungslos heißen Wüste, gibt es für Buffy und Harry im Grunde kein entrinnen. Die durchaus gegenseitige Anziehung zwischen Buffy und Boy verleiht diesem Konzept eine erotische Nuance (Ich dachte so still bei mir: Wäre 50 Shades of Grey zwanzig Jahre früher geschrieben worden, hätte River Phoenix zweifelsohne die Hauptrolle gespielt). Da ist irgendetwas an diesem verwirrten jungen Mann, dass die nicht ganz so knackige Schauspielerin anzieht. Es ist nicht seine Jugend, es ist gerade diese diabolische Aura, die ihn umgibt, und die Direktheit, mit der er seinem Begehren Ausdruck verleiht. Bis zum Ende ist Buffy hin und hergerissen zwischen Angst und Sehnsucht. Diese Ambivalenz, das Spiel mit dem Feuer wird zu einem prickelnden Subplot, der für mich das interessanteste Element der Geschichte ist.

Das wirklich Tragische an der unfertigen Version von Dark Blood ist, dass gerade diese spannende Beziehung zwischen Buffy und Boy nicht ausgespielt wird, da ihre intimsten Szenen selbstverständlich nicht mitten in der Wüste stattfinden, sondern Teil der Innenaufnahmen waren, die nicht mehr durchgeführt werden konnten. So fehlen insbesondere die Teile der Geschichte, in denen sich die beiden näher kommen, wie Buffy Schritt für Schritt realisiert, dass sie es mit einem Wahnsinnigen zu tun hat und auch einige der Psychospielchen, die Boy gen Ende mit seinen „Gästen“ treibt. George Sluizer ersetzt diese Szenen durch eine Erzählstimme, die zwar die inhaltlichen Lücken füllen, selbstverständlich aber nicht die entsprechende Atmosphäre erzeugen kann. Darunter leidet die Entwicklung der Charaktere und ihrer Beziehungen.

Meiner Meinung nach funktioniert Dark Blood trotzdem. Es kommt aber wie gesagt darauf an, was man erwartet. Auch wenn mich die Musikuntermalung manchmal ein wenig daran erinnerte, erleben wir hier keinen psychologisch ausgetüftelten David Lynch Film. Die Atmosphäre kann durch das fehlende Material nicht die notwendige Dichte erreichen, um den Zuschauer wirklich mitzureißen. Aber muss sie das? Dark Blood ist für mich kein unvollständiger Film, sondern eine andere Art Film. Das Experiment, Plotlöcher durch Erzählungen und Erklärungen zu füllen - George Sluizer versorgt uns durchaus mit Informationen, die wir der reinen Handlung nicht entnommen hätten – ist meines Erachtens gelungen. Etwas in mir sträubte sich mit aller Kraft gegen die Auslassungen und verlangte danach, diese Szenen zu sehen, bei denen es sich ja auch noch um die emotionalsten des Films handelte. Aber gerade diese Sehnsucht danach, den Streit, den Sex, den Wahnsinn, die Bedrohung ausagiert zu sehen statt nur erzählt zu bekommen, ist eine interessante Beobachtung an mir selbst.

Das Fehlen einzelner Plotelemente verleiht überdies Einblick in den Entstehungsprozess eines Spielfilms und zeigt wie sehr die Handlung durch die Dreharbeiten fragmentiert wird. Dark Blood ist also ein interessantes filmisches Experiment, nicht notwendiger Weise ein spannender Film. Aber dann wieder zeichnen sich die meisten Filme im Berlinale Wettbewerb ohnehin nicht durch eine mainstreamtaugliche Dramaturgie aus. Warum also dieser?


Harmony Lessons


© Harmony Lessons Film Production

Was ich absolut nicht vertragen kann, ist, wenn in einem Film Tiere gequält werden. Außerdem habe ich ein wirklich gravierendes Problem, anderen Leuten beim Kotzen zuzusehen. Insofern war Harmony Lessons nicht unbedingt der optimale Start in den Berlinale-Tag. Umso erstaunlicher, dass mir der Film trotzdem gut gefallen hat.

Wenn ich nach dieser Einleitung von „schönen“ Bildern spreche, ist das natürlich verwirrend. Aber selbstverständlich geht es in Harmony Lessons noch um Einiges mehr als nur Tierquälerei und Erbrochenes. Regisseur Emir Baigazin erzählt die Geschichte des ca. 14 jährigen Mobbingopfers Aslan (Timur Aidarbekov). Nachdem er vom Gangoberhaupt Bolat (Aslan Anarbayev) als Persona Non Grata erklärt wird, richtet Aslan seine Aufmerksamkeit verstärkt nach innen. Seine intensive Beschäftigung mit der eigenen Gesundheit und Hygiene nimmt geradezu zwanghafte Formen an. Als er erfährt, dass Kakerlaken Krankheitserreger übertragen, beginnt er Folter- und Tötungsmethoden für die Insekten zu entwickeln. Schon hier merken wir, dass der Junge eine tickende Zeitbombe ist, die sich ihre Aggressionen sorgfältig für den großen Gegenschlag aufspart.

Anders als der Titel vermuten ließe, geht es in Harmony Lessons vor allem um Gewalt. Bolat terrorisiert Aslan und seine Mitschüler, ist im Grunde aber selbst nur das Glied einer längeren Kette von Aggression. Wie sich im späteren Verlauf zeigt, sind die Erwachsenen in dieser Hinsicht keinen Deut besser. Harmony Lessons ist wahrlich kein „easy viewing“. Mehr als einmal musste ich wegschauen. Zum Beispiel wenn Aslan, der in der kasachischen Einöde unter einfachsten Bedingungen lebt, vor laufender Kamera ein Schaf schlachtet, ihm die Haut abzieht, die Eingeweide herausnimmt, dabei ein Embryo entdeckt und diesem ebenfalls die Kehle durchschneidet. Zu Beginn habe ich mich gefragt, warum uns Emir Baigazin mit diesen unnötig expliziten Bildern quält. Doch im Grunde sind sie die konsequente Einleitung eines Films, dessen permanente Gewalt uns einfach nur anekelt. Nicht weil wie in einem Actionfilm das Blut spritzt und Leute sich am laufenden Band die Köpfe einschlagen. Doch der Psychoterror, den Bolat durch seine Herrschaft ausübt, ist derart grausam, dass es in der Pressevorführung einen spontanen Szenenapplaus gab, als der Gangleader endlich selbst eine verpasst bekam. Aber nicht nur Bolat, auch Aslan ist nicht unbedingt das, was man einen Sympathieträge nennt. Dass er für die Kakerlaken einen elektrischen Stuhl bastelt, auf dem er sie dann für das Stehlen von Nahrung bestraft, ist schon ziemlich unheimlich, um nicht zu sagen abstoßend.

Trotz meiner Begeisterung für die Inszenierung, die Art und Weise wie Emir Baigazin die Innenwelt seines Protagonisten durch Bildkompositionen veranschaulicht, und die packende Story, habe ich mich nach dem Film ein wenig nach dem „Warum“ gefragt. Mobbing, bzw. Bullying, wie es heute auch genannt wird, ist durchaus ein beliebtes und auch wichtiges Thema. Doch war mir der inhaltliche Mehrwert dieser kasachischen Variante nicht ganz klar. Wenn ich den Film also weiterempfehle, dann mehr wegen seiner Machart, weniger auf Grund seiner Geschichte und definitiv nicht auf Grund seiner expliziten Darstellung von Folter und Magenentleerungen. 

Außerdem sei Harmony Lessons jedem ans Herz gelegt, der schon immer einmal ein kasachisches Martial-Arts-Schaf sehen wollte. Und da reichen dann auch die ersten 60 Sekunden! 


Mittwoch, 13. Februar 2013

Prince Avalanche


© Scott Gardner

Eigentlich wollte ich hier meiner ungebremsten Begeisterung für Prince Avalanche Ausdruck verleihen. Aber dann habe ich entdeckt, dass der US-amerikanische Wettbewerbsbeitrag von David Gordon Green auf einem isländischen Film namens Either Way basiert, der 2011 auf mehreren europäischen Festivals Preise abgeräumt hat. Nun kann ich nicht beurteilen, inwiefern die amerikanische Version die Geschichte neuinterpretiert oder ob es sich gar nur um eine Kopie der Vorlage handelt. Diese Unsicherheit schmälert ein wenig meine Begeisterung. Aber ob nun originell oder einfach nur gut kopiert, Prince Avalanche bietet eine willkommene Abwechslung in diesem deprimierenden Wettbewerb. David Gordon Green bringt uns zum Lachen, ohne dass er eine triviale Geschichte erzählen würde. Vielmehr transportiert sein Film diesen leichten, aber nicht flachen Humor, der aus der Absurdität des wahren Lebens entsteht und in vielen amerikanischen Independentfilmen zu finden ist. Die gelungene Mischung aus Humor und Anspruch findet man außerdem noch häufig im skandinavischen Kino, weshalb es mich nicht überrascht, dass das Konzept zu Prince Avalanche aus Island stammt. Nur wir Deutschen können das irgendwie nicht reproduzieren. Aber das ist ein anderes Thema.

Das Überraschendste an Prince Avalanche ist Paul Rudd in einer vergleichsweise ernsten Rolle. Als Alvin malt er Fahrbahnmarkierungen mitten in der texanischen Wildnis. Die Einsamkeit der durch einen Brand zerstörten Wälder gefallen ihm, weshalb ihn die Anwesenheit des Bruders seiner Freundin zu Beginn auf die Nerven geht. Lance (Emile Hirsch) ist ein einfaches Gemüt, besitzt keinerlei Outdoor-Fertigkeiten und jammert stetig über den Sexentzug, den sein neuer Job bei Alvin mit sich bringt. Doch eine unerwartete Entwicklung lässt die beiden Männer plötzlich zusammenrücken. Prince Avalanche ist ein bisschen wie ein Western: Ein reifer Mann, der das Leben in der Wildnis in und auswendig kennt, trifft auf ein junges, unruhiges Gegenüber, dem er nicht nur das Überleben jenseits der Zivilisation, sondern auch (männliche) Lebensweisheiten beibringt. Wie sich jedoch herausstellt, kann der zurückhaltende und untertemperierte Alvin vom vergnügungssüchtigen Lance durchaus ebenfalls etwas lernen.

Die Geschichte von Prince Avalanche entwickelt sich komplett aus den ausgezeichnet konstruierten Hauptfiguren. Das Setting des ausgebrannten Waldes ist die Bühne für ihre Auseinandersetzungen mit sich selbst und miteinander. Das Auftreten einer mysteriösen Frau bildet ein magisches Moment, das weder die Protagonisten noch die Zuschauer einordnen können. Und doch ist das Bild der alten Dame, die in „ihrer eigenen Asche wühlt" sehr stark. Für mich spielt der Waldbrand, der auch den Anfang des Films bildet, nicht nur die Rolle einer Kulisse, sondern hat auch eine inhaltliche Bedeutung. David Gordon Green zeigt ein ausgebranntes Amerika, ein Amerika in Asche, Kinder die im Schutt spielen. Das Amerika der einfachen und benachteiligten Menschen, ist im Grunde viel größer als das der Metropolen und idyllischen Vorstädte, taucht im Mainstream-Film aber viel zu selten auf. Es ist wohl ein wenig dem Erfolg von Beasts of the Southern Wild zu verdanken, dass sich dies zu ändern beginnt. Vielleicht ist Prince Avalanche aber auch ein Ausdruck von Zukunftsangst und Unsicherheit. Der romantisierte Rückzug in die Wildnis, weg von der Zivilisation, würde für mich auch zu dieser Interpretation passen.

Mir hat der Film außerordentlich gut gefallen. Der Humor, die Charaktere, die latente Absurdität und die tollen Bildkompositionen haben es mir angetan. Prince Avalanche ist sicher kein Bären-Kandidat, dafür wirklich mal eine Empfehlung wert. 


An Episode in the Life of an Iron Picker

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© Berlinale

Wo ist die Grenze zwischen einem Dokumentar- und einem Spielfilm? An Episode in the Life of an Iron Picker lässt mich darüber wieder einmal genauer nachdenken. In den ersten Filmminuten machte der Film von Danis Tanovic bereits einen sehr dokumentarischen Eindruck auf mich. Doch ich führte das vor allem auf die realistischen Farben und die Kameraführung zurück. Später dann begeisterte mich die Natürlichkeit der Darsteller, vor allem der Umgang der Eltern mit den Kindern und ich fragte mich, ob es sich hier wohl um eine echte Familie handelte, die kollektiv gecastet wurde. Damit kam ich der Wahrheit schon ziemlich nahe. 

An Episode in the Life of an Iron Picker basiert auf einer wahren Begebenheit. Die Menschen, die wir auf der Leinwand erleben, haben diese Geschichte selbst erlebt. Senada, Nazif und ihre Kinder spielen sich selbst. Die Roma-Familie durchlebt erneut, wie Senada auf Grund einer Fehlgeburt eine lebenswichtige Operation benötigt, deren Kosten jedoch vollkommen den Finanzrahmen des Ehepaars sprengen. Nazif sammelt und verkauft Autoteile und Metallschrott. Damit verdient er so wenig, dass er zeitweise nicht einmal die Stromrechnung bezahlen kann, so dass die Familie im Dunkeln sitzt. Verzweifelt versucht Nazif den Ärzten diese prekäre Situation zu erklären, doch die zeigen keinerlei Verständnis. Ohne Krankversicherung oder eigenes Budget kann die Operation nicht durchgeführt werden. Wenn Nazif keine Lösung findet, wird Sedana sterben.

Als Danis Tanociv auf diese Geschichte aufmerksam wurde, wollte er sofort einen Film darüber drehen. Dass sich Senada und Nazif bereit erklärten, ihre Rollen selbst zu spielen, war ein großes Glück, denn hierdurch erhält der Film eine unvergleichliche Authentizität, die auch den Reiz des Ganzen ausmacht. Denn so dramatisch die Geschichte auch ist, das Erzähltempo bietet wenig Dynamik. Danis Tanovic macht eben kein Unterhaltungs-, sondern Aufklärungskino. Ob das noch Spielfilm oder schon Dokumentation ist, wage ich nicht zu beurteilen.

Ich glaube, es zeichnet den Berlinale-Wettbewerb im Allgemeinen aus, dass die präsentierten Filme eher deprimieren als unterhalten. Auch wenn An Episode in the Life of an Iron Picker ein recht versöhnliches Ende findet, entlässt er seinen Zuschauer nicht unbedingt in guter Stimmung. Das soll keine Wertung, sondern lediglich eine Feststellung sein. Danis Tanovic möchte uns etwas über die Diskriminierung von Roma-Familien in Bosnien erzählen und genau das tut er. Nicht mehr und nicht weniger. 



Dienstag, 12. Februar 2013

Camille Claudel 1915

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© Berlinale

Und wieder eine tragische Frauenfigur. Camille Claudel 1915 erzählt von, wie sollte es anders sein, Camille Claudel, Künstlerin, sowie Schülerin und Geliebte von Auguste Rodin. Doch im Jahr 1915 ist sie vor allem eins: verrückt und einsam. Von ihrer Familie in ein Asyl für psychisch Kranke verbannt, vegetiert die intelligente Frau vor sich hin. Und wenn sie zuvor noch nicht irre war, ist sie es dort sicher geworden. Umgeben von Patienten mit deutlich stärkeren geistigen Beeinträchtigungen fühlt sich Camille Claudel vollkommen fehlplatziert. Die ständigen Schreie der anderen strapazieren ihre Nerven, so dass sie niemals zur Ruhe kommt. Und dann kämpft Camille natürlich noch mit ihren eigenen „Dämonen“, den plötzliche Gefühlsausbrüchen, vor allem aber der Paranoia, jemand wolle sie vergiften. 

Camille Claudel 1915 lebt von der Hauptdarstellerin Juliette Binoche, für die diese Rolle ohne Frage eine Tour de Force darstellt. Binoche muss starke und vor allem plötzliche Emotionen darstellen. Dabei kommt ihr die Regie von Bruno Dumont insofern nicht entgegen, als dass dieser mit sehr langen Einstellungen arbeitet und die Kamera stets auffällig die Nähe zu den Figuren sucht. Das hat Juliette Binoche trotz all ihres Talents sicher einiges an schauspielerischer Arbeit abverlangt. Aber auch der Zuschauer hat es zugegebener Maßen in Camille Claudel 1915 nicht leicht, denn so trostlos und deprimierend wie das Leben der Hauptfigur ist auch der Film. Die Journalistin, die neben mir saß, schlief während der Pressevorführung mehrfach ein. Andere Kollegen zeigten sich nach dem Screening jedoch begeistert. Vielleicht braucht es ein gewisses filmisches Auge, um über die Abwesenheit jeglicher Form von Handlung hinweg zu sehen und die Inszenierung selbst zu genießen. Mir ist das nicht gelungen.

Trotzdem hat mich Camille Claudel 1915 berührt und ich habe mich gefragt, ob sie als Mann das gleiche Schicksal erlitten hätte. In ihren paranoiden Äußerungen spielt ihr Geschlecht stets eine große Rolle. Männer seien in ihr Atelier eingebrochen, hätten ihre Werkzeuge und Kunstwerke gestohlen. Vor allem Auguste Rodin erwähnt sie immer wieder in diesem Zusammenhang. Sie seien neidisch auf sie gewesen und hätten es noch immer auf sie abgesehen. Wie viel davon Realität, wie viel Teil ihres Wahns ist, erfahren wir leider nicht. 

Insgesamt hätte dieser Film auch interessanter erzählt werden können, z.B. in dem man die Figuren weniger monologisieren ließe. Wenn Camille auf ihren Bruder Paul (Jean-Luc Vincent) trifft, scheinen die beiden sich weniger zu unterhalten, als vielmehr die Briefe zu rezitieren, die Bruno Dumont als Grundlage für seinen Film dienten. Sicher, auch diese Szene entwickelt eine bedrückende Atmosphäre und hat insofern eine Funktion, und doch kann ich mich mit dieser lückenlosen filmischen Depression nicht anfreunden.

Das beste an Camille Claudel 1915 sind die Nebendarsteller, bei denen es sich um "echte" geistig beeinträchtigte Patienten und ihre Pflegerinnen handelt. Die Atmosphäre der Einrichtung und auch der eklatante Unterschied zwischen der geistig wachen Hauptfigur und ihren stark eingeschränkten Mitinsassen hätten mit Schauspielern nicht annähernd so intensiv inszeniert werden können. Doch diese Inszenierung ist nicht attraktiv, sondern abschreckend. Die langen Großaufnahmen von abgebrochenen Zähnen und verzerrten Gesichtern drohen den Zuschauer abzustoßen, vielleicht gar anzuekeln. 

Was soll ich sagen: Camille Claudel 1915 macht einfach keinen Spaß. Natürlich soll der Film auch keinen Spaß machen, genau darum geht es ja. Doch stellt sich hier mal wieder die Frage, was einen guten Film ausmacht, ob es nicht zumindest ein Element geben sollte, dass dem Zuschauer einen wie auch immer gearteten Unterhaltungswert bietet. Aber das ist eine andere Diskussion, die ein anderes Mal geführt werden soll. 


Side Effects

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© Berlinale

Schon bei der letzten Berlinale hat mich Steven Soderbergh begeistert. Nicht weil Haywire so eine immense filmische Offenbarung gewesen wäre, sondern weil sowohl der Film als auch der Regisseur so angenehm unproblematisch daherkamen. Versteht mich nicht falsch: Ich schätze es, wenn Filme auf gesellschaftliche Missstände hinweisen, aber manchmal wollen wir doch auch einfach nur unterhalten werden, oder nicht?!

Side Effects ist einer dieser Filme, der von seinen unvorhergesehenen Wendungen lebt und zu dem man daher lieber nicht zu viel schreibt. Vielleicht sage ich nur so viel: Der Titel ist ein wenig irreführend, denn er bezieht sich lediglich auf das erste Drittel der Geschichte. In diesem Teil des Films kämpft Roony Mara als Emily Taylor gegen starke Depressionen, die vor allem die Beziehung zu ihrem Ehemann (Channing Tatum) beeinträchtigen. Dabei hat dieser gerade erst seine Haftstrafe wegen Insiderhandels abgesessen. Damit sie gemeinsam in ein neues Leben starten können, lässt sich Emily von ihrem Psychiater (Jude Law) Antidepressiva verschreiben. Doch die Drogen haben unvorhergesehene Nebenwirkungen: Emily verliert vollkommen die Kontrolle und begeht eine schreckliche Tat. Wer trägt dafür die Schuld? Der Arzt, die Pharmaindustrie, oder steckt etwas ganz anderes dahinter?

Drehbuchautor Scott Z. Burns und Regisseur Steven Soderbergh lenken den Verdacht geschickt von einer Person zur nächsten, so dass der Zuschauer nie weiß, wem in diesem Komplott eigentlich noch zu trauen ist. Wer der Täter und wer das Opfer ist ändert sich mit jedem der zahlreichen Plottwists. So bleibt die Geschichte bis zur letzten Minute spannend. Steven Soderbergh hat keinen Film über die bösen Pharmakonzerne oder über die Volkskrankheit Depression gedreht. Er hat einen Unterhaltungsfilm gemacht, denn – so seine Aussage bei der Pressekonferenz – am Ende seiner Karriere möchte er nur noch Filme machen, die ihm und seinem Publikum Spaß machen. Und ich finde das vollkommen legitim. Es muss nicht jeder Film zu Grundsatzdiskussionen führen und Weltveränderer auf den Plan rufen.

Immerhin machen uns die Macher von Side Effects durchaus auf ein Problem unserer Zeit aufmerksam. In unserem Kampf gegen das Unglücklichsein, das im Grunde doch zum Leben dazu gehört, neigen wir dazu „Abkürzungen“ zu nehmen, wie es Jude Law formulierte. Hierzulande wird nicht öffentlich für Antidepressiva geworben. In den USA jedoch ist das anders. Den Leuten wird eine geradezu magische Heilung versprochen, so dass sie über eventuelle Nebenwirkungen in ihrer Verzweiflung gerne hinwegsehen. Gleichzeitig stellen Psychopharmaka für viele Menschen aber auch einen Weg zu mehr Lebensqualität dar. All das thematisiert Side Effects durchaus, aber eben ohne die moralische Keule zu schwingen und uns ständig mahnend an den Ernst der Lage zu erinnern.

Ich finde das gut. Mich hat Side Effects unterhalten. Steven Soderbergh macht als Regisseur wie gewohnt einen guten Job und setzt den Psychotriller gekonnt in Szene. Das ist spannend, manchmal beängstigend und macht vor allem großen Spaß. So darf Kino gerne öfter sein und ich hoffe sehr, sehr stark, dass Herr Soderbergh seine Ruhestandsdrohungen nicht in die Tat umsetzt. 


Pardé


© Berlinale

Ein Mann (Kamboziya Partovi) zieht sich mit seinem Hund in ein Haus am Meer zurück. Er verhängt die Fenster, denn niemand soll seine Anwesenheit bemerken. In der Isolation schreibt er ein Drehbuch. Eines Tages stößt eine junge, suizidgefährdete Frau (Maryam Moghadam) zu ihm, die nicht mehr gehen möchte. Wo kommt sie her? Was treibt sie an? Als wir gerade glauben, die Ereignisse auf der Leinwand zu verstehen, hebt Jafar Panahi seinen Film auf eine Metaebene und stiftet neue Verwirrung.

Dass Pardé rational nicht zu erfassen ist, ist gewollt. Das Verständnis der Ereignisse ist meiner Meinung nach zum Verständnis des Films auch nicht notwendig. Die letzte halbe Stunde allerdings ebenso wenig. Auch ohne die Metaebene habe ich begriffen, dass es sich bei dem Mann, der sich in seinem Haus verbarrikadiert, um Jafar Panahi handelt, der im Iran unter Hausarrest steht und mit einem Berufsverbot bestraft wurde. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, war für mich durch die Inszenierung sehr stark erfahrbar. Die Kamera verbleibt stets im Haus, schaut anfänglich noch durch vergitterte Fenster und Gardinen, verfolgt aber später nicht einmal mehr die Blicke des Protagonisten, wenn dieser die dunklen Vorhänge beiseite schiebt, um vorsichtig nach draußen zu schauen. Hierdurch einsteht ein Gefühl der Enge und Beklommenheit. Auch die suizidale Frau ist für mich irgendwie Jafar Panahi. Für sie ist Selbstmord der einzige Weg in die Freiheit und wie der Film zu einem späteren Zeitpunkt deutlich macht, hat auch Panahi diesen Ausweg schon einmal erwogen, dann jedoch verworfen. 

Dass der Film in der letzten halben Stunde eine Metaebene nach der anderen produziert, ist meines Erachtens für das Verständnis der Anspielungen unnötig. Vielleicht aber braucht es auch die hierdurch entstehende Verwirrung, damit der Zuschauer die Ereignisse nicht mehr rational zu begreifen versucht. Wie immer, wenn sich Metaebenen potenzieren, geht der Kontakt zur Ursprungsebene verloren. Irgendwann lässt sich einfach kein Sinn mehr generieren, weil es keine Basis mehr gibt, auf die wir uns beziehen könnten. Aber auch hierin steckt für mich ein Symptom der Depression, das ich ebenfalls auf Panahis Situation übertragen kann. 

Im Gegensatz zu einigen Kollegen, die ich nach der Vorführung sprach, hat mich der Film begeistert. Je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt er mir. Das einzige, dass ich Jafar Panahi hier anlasten könnte, wäre, dass er am Ende vielleicht etwas zu dick aufträgt, sich selbst zu stark als Opfer eines politischen Systems in den Mittelpunkt stellt. Pardé ist eben ein sehr persönlicher Film. Aber das muss ja nichts Schlechtes sein, oder?!


Montag, 11. Februar 2013

Before Midnight

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© Despina Spyrou

1995 begeisterten Regisseur Richard Linklater und die Schauspieler Julie Delpy und Ethan Hawke mit ihrem gemeinsamen Film Before Sunrise. Eine ganze Generation fragte sich fortan, was aus Celine (Delpy) und Jesse (Hawke) geworden sei, die eine romantische Nacht in Wien verbracht hatten, nur um sich dann schweren Herzens voneinander zu trennen. Neun Jahre später fanden wir es endlich in Before Sunset heraus. Doch auch hier ließ uns das Filmteam etwas ratlos zurück: Wie würde es weitergehen? Würden sie nun endlich ein Paar werden? Und wieder neun Jahre später bekommen wir mit Before Midnight endlich die langersehnte Antwort. Ich glaube, dass meine Generation – also alles was heute zwischen 25 und 45 ist, ich bin da heute mal großzügig – zu Jesse und Celine eine besondere Bindung hat. Auf mich trifft das in jedem Fall zu. Ich habe die Filme und die Charaktere sehr ins Herz geschlossen und irgendwie habe ich mich mit ihnen zusammen weiterentwickelt. Im ersten Teil waren die Protagonisten noch völlig berauscht von ihrer jugendlichen Liebe, in der Fortsetzung etwas bedachter. Ihre Gesprächsthemen veränderten sich, trafen aber stets das, was mich auch beschäftigte. Und obwohl ich eigentlich ein bisschen zu jung dafür bin, ist das bei Before Midnight wieder der Fall.

Wir treffen Jesse an einem griechischen Flughafen wieder, an dem er seinen Sohn Hank (Seamus Davey-Fitzpatrick) schweren Herzens ins Flugzeug setzt, damit dieser die Heimreise zu seiner Mutter antritt. Denn Jesse lebt inzwischen mit Celine und den gemeinsamen Zwillingen in Europa. Den Sommer haben sie mit Freunden in Griechenland verbracht, doch der Urlaub hat nun ein Ende. Am nächsten Tag geht es zurück nach Frankreich. Vor ihrer Abreise will das vertraute Paar noch eine kinderfreie Nacht im Hotel verbringen. Doch statt Romantik und weltergründenden Gesprächen entsteht vollkommen überraschend etwas ganz anderes: Streit. Ist dies die letzte gemeinsame Nacht von Celine und Jesse?

Before Midnight knüpft stilistisch an die ersten beiden Teile an. Nach Wien und Paris durchstreifen die Protagonisten nun eine nicht näher definierte Region der Halbinsel Peloponnes. Wie schon die beiden Vorgänger lebt auch dieser Film von den langen, oft ungeschnittenen und sehr komplexen Dialogen, die oft in Bewegung stattfinden. Die Themen haben sich wieder einmal geändert. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Bedeutung der Begriffe Liebe und Beziehung von einer Generation zur nächsten verändert hat. Schnell wird klar, dass die Geschichte von Before Sunset heute so nicht mehr spielen könnte, da Celine und Jesse sich ohne Weiteres über Facebook oder vergleichbare Internetseiten hätten finden können. Der Zauber, der in ihrem Versprechen lag, sich genau sechs Monate später wieder in Wien zu treffen, ist ein Produkt seiner Zeit. Ein zweites wichtiges Thema, das sich viel zu gut in den diesjährigen Wettbewerb fügt, ist das Verhältnis von Mann und Frau. Celine macht sich über Jesse lustig und behauptet, dieser wünsche sich eine dumme Partnerin an seiner Seite, neben der er sich stark und klug vorkomme. Dahinter verbirgt sich der Frust einer Frau, die ihre Karriere für ihre Familie geopfert hat. Die romantische Liebe ist verflogen und Celine kommt an einen Punkt, an dem sich ihr Leben nicht mehr nur um Jesse dreht. Plötzlich ist eine Trennung kein Weltuntergang mehr, sondern vor auch eine Chance, beruflichen Träumen nachzugehen. Damit setzen sich die Protagonisten mit einem immens zeitgenössischen Thema auseinander, nämlich der (beruflichen) Gleichberechtigung innerhalb einer Beziehung. In einer Zeit, in der unsere Rollen nicht mehr eindeutig definiert sind, müssen wir Aufgaben und Freiräume ständig neu verhandeln. Das besondere an den Auseinandersetzungen zwischen Jesse und Celine ist, dass der Film keinerlei Position bezieht. Der Zuschauer ist stets hin- und hergerissen und kann sich in beide Figuren hineinversetzen. Umso ergreifender ist der Moment, wenn sowohl die Protagonisten als auch das Publikum begreifen, dass sich dieser Konflikt im Grunde nicht lösen lässt.

Before Midnight kann wie die ersten beiden Filme trotz der Dialoglast überzeugen, auch wenn die Städte Wien und Paris eine deutlich interessantere Kulisse geboten haben. Doch das Gewusel einer Großstadt passt nun auch nicht mehr zu unserem Paar, das im ländlichen Griechenland deutlich besser aufgehoben ist. Trotz aller Wiedererkennungswerte bezüglich der Figuren und des Stils kann der dritte Teil der Trilogie etwas Neues hinzufügen: das Element des Streits. Before Midnight wirkt gleichzeitig altbekannt und doch irgendwie ganz anders. Der Film ist kein lauwarmer Aufguss, sondern eine konsequente Weiterentwicklung der Charaktere und ihrer Geschichte.

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, lassen Richard Linklater, Julie Delpy und Ethan Hawke auch in Before Midnight das Ende offen und ebnen somit den Weg für eine weitere Fortsetzung. Die ist zwar nicht konkret in Planung, doch wer weiß was die Zukunft bringt. Die nächsten neun Jahre werden hart, aber wir geben die Hoffnung nicht auf! 


Layla Fourie

 © Pandora Film
 
Es hätte so schön werden können mit August Diehl in Südafrika, doch was vielversprechend beginnt, endet leider wie so oft in Ratlosigkeit. Layla Fourie kann die Erwartungen, die der Film in der ersten Hälfte weckt, nicht erfüllen und lässt den Zuschauer daher trotz guter Ansätze etwas frustriert zurück.

Layla Fourie stellt in diesem Wettbewerb ein Déjà-Vu dar. Dafür kann Regisseurin Pia Marais wahrlich nichts, denn sie hat sich die Startnummer nicht ausgesucht. Dementsprechend kann sie ebenso wenig dafür, dass ihr Film für mich heute schon die zweite Geschichte eines Autounfalls mit Todesfolge darstellt. Auch dass im Mittelpunkt der Geschichte erneut eine Frau steht, ist inzwischen nicht mehr wirklich originell, sondern droht eine ganz neue Art der Einseitigkeit in diesem Wettbewerb zu werden. Aber auch dafür kann Pia Marais natürlich nichts. Immerhin bereichert sie das Festival mit ihrem Film um eine Art Krimi oder gar Psychothriller, denn in Layla Fourie geht es zeitweise richtig spannend zu.

Die titelgebende Hauptfigur muss für einen Job mit ihrem ca. sechsjährigen Sohn für ein paar Tage die Stadt verlassen. Auf dem Weg zu ihrem Einsatzort überfährt sie versehentlich einen Mann. Layla (Rayna Campbell) will das Opfer in ein Krankenhaus bringen, doch dafür ist es schon zu spät. Aus Sorge um ihren Sohn beschließt die wahrheitsliebende Frau, die Ereignisse dieser Nacht für sich zu behalten. Doch an ihrem Arbeitsplatz trifft sie ausgerechnet auf Eugene, den Sohn des Unfallopfers (August Diehl). Wird es Layla gelingen, die Wahrheit zu verbergen? Und wie wird Eugene reagieren, wenn er erfährt, dass sie die Mörderin seines Vaters ist?

In Layla Fourie geht es vor allem um das Thema Wahrheit. Die Hauptfigur führt für ihre Auftraggeber Lügendetektortests durch, z.B. im Rahmen von Bewerbungsgesprächen. Sie kennt also die Symptome einer Falschaussage und weiß diese zu vermeiden. Doch ihr inneres Streben nach Aufrichtigkeit macht das Lügen zur Qual, zumal zwischen Eugene und ihr durchaus ein paar Funken sprühen. Es ist nur die innige Liebe zu ihrem Sohn, die sie standhalten lässt.

In der ersten Filmhälfte gelingt es Pia Marais eindrucksvoll, uns Laylas Lebenswelt vor Augen zu führen. Angst ist die dominante Stimmung in diesem Mikrokosmos, zunächst um die Besorgung des Lebensunterhalts und die Sicherheit des Sohnes im kriminalisierten Ghetto, dann vor der Enthüllung der Wahrheit und dem Verlust des Kindes. Der Junge wiederum ist eine tickende Zeitbombe, denn der kleine Kane hat nicht nur den Unfall miterlebt, sondern auch heimlich das Handy des Opfers entwendet. Und so warten wir nur darauf, dass Laylas Fassade bröckelt oder Kane sich verplappert. Auch der undurchsichtige Eugene stellt nicht nur ein Objekt der Begierde, sondern vor allem der Bedrohung dar.

Aber dann kommt doch alles anders: nicht nur unerwartet, sondern vor allem unglaubwürdig. Kanes Verhalten ist selbst für ein Kind seines Alters schwer nachvollziehbar. Mal scheint er bereitwillig alles auszuplaudern, dann wieder droht er mit Selbstmord als Layla ihr Gewissen endlich durch eine Beichte erleichtern möchte. Auch Eugenes Position bleibt unklar: Ab welchem Punkt beginnt er die geheimnisvolle Frau zu verdächtigen? Fühlt er sich wirklich zu ihr hingezogen oder ist sein Flirten Teil einer gekonnten Manipulation? Weil wir die Figuren immer schwerer einordnen können, bleiben auch ihre Entscheidungen und Handlungen schwer nachvollziehbar. So wirkt denn auch die Zuspitzung am Ende sehr konstruiert und die Auflösung der Geschichte vor allem rätselhaft.

Ganz ehrlich: Hätte ich nicht bislang in fast jedem Film eine starke Frauenfigur vorgesetzt bekommen, hätte Layla Fourie mich durch diesen Punkt eventuell überzeugen können. Doch im Vergleich zu Gloria, Die Nonne oder auch Child’s Pose wird die Hauptfigur hier zu stark in die Opferrolle gedrängt, um als emanzipatorische Identifikationsfläche zu funktionieren. Die mangelnde Unterstützung durch ihren Exmann bringt Layla in die brenzlige Lage, ihren Sohn zu ihrem Job mitzunehmen, was wiederum zum Unfall führt. Danach wird Layla Opfer ihrer eigenen vorbildlichen Moral. Sie will die Wahrheit sagen, „kann aber nicht". So erleben wir sie als vom Schicksal benachteiligte Frau und nicht als die Kämpferin, die sie meiner Meinung nach darstellen soll.

Für den Unterhaltungsfaktor des Films ist dies weniger von Bedeutung. Der leidet schlichtweg darunter, dass Pia Marais die dichte Atmosphäre ihres Anfangs nicht über die gesamte Laufzeit retten kann und der Spannungsbogen vor allem im letzten Drittel immer wieder absackt. Schade, schade, es hatte alles so vielversprechend begonnen.  

Child's Pose


© Cos Aelenei

Frauen um die 60 scheinen in die Liga der interessanten Festivalprotagonistinnen aufgestiegen zu sein, denn nach Gloria stellt nun auch Child’s Pose eine reife Frau und Mutter in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zum chilenischen Wettbewerbsbeitrag geht es in dem rumänischen Film aber um den in Gloria nur angedeuteten Ablösungsprozess erwachsener Kinder. Cornelia (Luminita Gheorghiu) mischt sich nicht nur verbal in die Angelegenheiten ihres Sohnes, sie scheut auch nicht davor zurück, seine Wohnung zu durchwühlen und seine Putzfrau auszuhorchen. Als Barbu (Bogdan Dumitrache) eines Nachts einen Autounfall und den Tod eines Kinder verursacht, ist es dementsprechend Cornelia, die die Dinge in die Hand nimmt, Beamten- und Zeugenbestechung inklusive. So wird neben dem familiären Konflikt auch gleich etwas über Korruption und Machtverhältnisse im modernen Rumänien erzählt, denn Cornelia und Barbu gehören zur Oberschicht und sind der Familie des Opfers nicht nur finanziell überlegen. Doch der ungleiche Kampf zwischen Arm und Reich ist nur ein Nebenschauplatz. Der Fokus von Regisseur Calin Peter Netzer liegt klar auf dem Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, denn ausgerechnet in diesem Krisenmoment beginnt Barbu sich zu emanzipieren.

Cornelia ist die absolute Albtraum-Version einer (Schwieger)Mutter, übergriffig auf nahezu allen Ebenen, kontrollsüchtig und intrigant. Und doch wirkt sie mit ihrem unerbittlichen Einsatz für den einzigen Sohn irgendwie sympathisch. Ihre Verlustängste in Anbetracht der einsetzenden Abnabelung Barbus sind so enorm, dass sie ihren "Verlust" mit dem der Eltern des Unfallopfers vergleicht. Und trotz all ihrer Überheblichkeit können wir ihr das nicht so richtig übel nehmen. Denn Cornelia ist in der Tat verzweifelt. Und irgendwie tut es uns ja auch leid, dass Barbu sie ausgerechnet in diesem Moment abzulehnen beginnt, in dem sie ihm eine so große Stütze ist. Auch wenn die Verwöhnung durch die Mutter zu seiner Handlungsunfähigkeit einen großen Teil beigetragen hat, entsteht der Eindruck von Undankbarkeit gegenüber Cornelias Einsatz. 

Zwischenmenschlich passiert in Child’s Pose also jede Menge. Auf der Handlungsebene eher weniger. Die Szenen und Dialoge werden unerbittlich gedehnt, was sich mit unseren Sehgewohnheiten widerspricht und unsere Aufmerksamkeit mächtig auf die Probe stellt. Dennoch wirkt der fast zweistündige Film überraschend kurzweilig. Den dramaturgischen Kniff, der hier geradezu ein Wunder vollbringt, konnte ich jedoch nicht identifizieren. Vielleicht hat es etwas mit den Charakteren zu tun, die durch die Bank sehr komplex und überzeugend konstruiert sind und somit unser Interesse für ihre Geschichte wecken. Löblich ist die auch erneut sehr starke Frauenfigur, denn Cornelia dominiert nicht nur ihren Sohn. Sie ist es ja auch, die Polizisten und Zeugen besticht und in diesen Verhandlungen stets mit großem Selbstbewusstsein auftritt.

Trotz allem ist Child’s Pose weder ein Film, den ich weiter empfehlen noch wiederholt ansehen würde. Dafür ist die Geschichte doch ein wenig zu unspektakulär und altbekannt, die Handlung etwas zu schleppend. Ich bin gespannt, wie der Film bei der Jury angekommen ist.

Sonntag, 10. Februar 2013

Vic + Flo Saw a Bear

© Yannick Grandmont

Frauen, Frauen, überall Frauen. In allen drei Wettbewerbsfilmen, die heute liefen, standen Frauen im Mittelpunkt. So auch in Vic + Flo Saw a Bear, der jedoch deutlich weniger überzeugen konnte als die vorhergehenden Filme.

Vic (Pierrette Robitaille) und Flo (Romane Bohringer) sind zwei ehemalige Sträflinge, die sich in eine abgelegene Hütte in den kanadischen Wäldern zurückziehen. Eigentlich lebt dort noch Vics greiser Onkel, doch weil Vic nicht in der Lage ist, sich angemessen um den alten Mann zu kümmern, wird dieser bald vom Sozialdienst abgeholt. Das ist traurig für die ohnehin schon einsame Frau. Aber schließlich hat sie noch Flo. Aber die deutlich jüngere Frau fühlt sich in der Abgelegenheit nicht ganz so wohl wie Vic und hat überdies durchaus auch Interesse für die männliche Spezies. Zudem wird sie von ihrer kriminellen Vergangenheit eingeholt, die schließlich das Leben beider Frauen bedroht.

Schon auf Grund der isolierten Lebensweise der Hauptfiguren ist die Anzahl der für die Geschichte zentralen Personen sehr begrenzt und umfasst neben dem lesbischen Liebespaar im Grunde nur noch eine weitere Person, den wohlwollenden Bewährungshelfer Guillaume (Marc-André Grondin), übrigens die einzige männliche Figur, die in der Geschichte eine tragende Rolle spielt. Weder Vic noch Flo sind sonderlich gesprächig oder unternehmungslustig und dementsprechend ist Vic + Flo Saw a Bear von einer geradezu depressiven Ruhe gekennzeichnet. Doch gerade wenn man die Ereignislosigkeit nicht mehr zu ertragen glaubt, zieht das Tempo plötzlich an. So richtig spannend geht es trotzdem nicht zu.

Das ist ja grundsätzlich kein Problem. Ich habe durchaus schon Filme gesehen, in denen deutlich weniger passiert ist und die mir trotzdem gefallen haben. Aber wenn es nicht die spannende Handlung ist, die einen fesselt, muss ein anderes Element diese Funktion übernehmen. Eine interessante Figur, eine besondere Ästhetik und/oder Kameraführung, ein relevantes Thema, das zum Nachdenken anregt, und so weiter. Vic + Flo Saw a Bear bietet in meinen Augen keines dieser Elemente. Über die Figuren erfahren wir kaum etwas. So bleibt bis zum Ende unklar, warum die beiden Frauen im Gefängnis gesessen haben und warum Bösewichtin Jackie (Marie Brassard) es auf sie abgesehen hat. Vic und Flo ziehen sich nicht nur von ihrem sozialen Umfeld zurück, sondern auch von uns. Sie wirken menschenfeindlich und können nur schwer unsere Sympathie wecken. Was die Botschaft angeht, könnte es um die schwierige Wiedereingliederung ehemaliger Strafgefangener gehen. Aber sicher bin ich mir da nicht. Auch das Ende lässt sich mit dieser Interpretation schwer vereinbaren.

Der Film hinterließ bei mir vor allem ein großes „Warum?“. Es fällt mir immens schwer herauszulesen, worum es dem Regisseur und Drehbuchautoren Denis Côté eigentlich geht. Im Pressematerial las ich, dass es für ihn eine Herausforderung darstellte, starke weibliche Charaktere zu entwerfen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die „starken“ Frauen in seinem Film grundsätzlich keinen BH, dafür aber ein Oberteil tragen, dass das Fehlen dieses Accessoires offensichtlich zur Schau stellt. Statt starke Frauen zu inszenieren, ist Côté in meinen Augen in die Kampflesben-Klischeefalle getappt. Vielleicht sind die Bärenfallen im Finale des Films ja metaphorisch gemeint?!

La Religieuse - Die Nonne

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© Berlinale
Ich mag bei religiösen Filmen etwas sensibel sein. Es mag an meinem eigenen christlichen Glauben liegen, dass mir Die Nonne a.k.a. La Religieuse a.k.a. The Nun nicht besonders gut gefallen hat. Basierend auf den Gesprächen mit den Kritikerkollegen halte ich es jedoch ebenso für möglich, dass der Film einfach nicht besonders gut war. Und das obwohl er eine lobenswerte Botschaft transportiert. Aber gut gemeint ist eben nicht gleich gut gemacht, wie ich zum x. Mal in Bezug auf einen Film feststellen muss.

1765 hat die junge Suzanne (Pauline Étienne) nur zwei Möglichkeiten: Die Ehe oder das Kloster. Da sie sich für Gott deutlich mehr begeistern kann als für die männlichen Werber, entschließt sie sich, einige Zeit ins Kloster zu gehen. Das kommt ihren Eltern recht gelegen, denn die Ehen ihrer anderen beiden Töchter haben die Familie schon genug Geld gekostet. Als Suzanne sich überraschend entschließt, dass das Klosterleben auf die Dauer doch nichts für sie sei, stößt sie auf großen Widerstand. Als sie dann auch noch erfährt, dass sie ein uneheliches Kind ist und somit keinerlei Anspruch auf das Vermögen ihres Vaters hat, fügt sie sich in ihr frommes Schicksal. Die gutmütige Mutter Oberin (Françoise Lebrun) mindert zunächst ihr Leid, doch nach deren Tod kommt Suzanne vom Regen in die Traufe. Während sie versucht, sich vom Klosterleben zu befreien, wird sie Opfer sadistischer Demütigungen und sexueller Übergriffe.

Nun mag es so wirken, als sei die Kirche die Wurzel allen Übels. Schließlich ist sie der Ort, an dem Suzanne eingesperrt und misshandelt wird. Vielleicht gibt es auch den einen oder anderen, der das so gesehen hat. Doch die Oberin in Suzannes zweitem Kloster zeichnet ein anderes Bild der Institution. Hier wird das Leben als Nonne die Alternative zu einer arrangierten Ehe, in der Frau sich permanent dem Willen eines Mannes beugen müsste. Nun ließe sich natürlich auch argumentieren, dass die Kirche eine patriarchale Organisation sei, in der Frauen sich letztendlich auch Männern unterordnen. Der Punkt hierbei ist jedoch die Möglichkeit einer eigenen Entscheidung. Doch Suzanne hat keine Entscheidung getroffen. Sie hat dieses Leben nicht gewählt. Und sie wehrt sich dagegen, zu akzeptieren, dass für sie als Frau nur diese beiden Möglichkeiten existieren. Im Grunde ist Die Nonne also ein Film über Emanzipation, über den Kampf einer Frau, über sich selbst zu bestimmen. 

Der Film von Guillaume Nicloux hat leider ein grundlegendes Problem, das auch seine Botschaft zu gefährden droht. Während zwei Drittel der Handlung eine ernste und oft bedrückende Atmosphäre entwickeln, kippt der Film mit dem Auftritt von Isabelle Huppert als Ordensmutter mit lesbischen Neigungen plötzlich ins Komödiantische. Ob dies ein Fehler der Schauspielerin oder der Regie oder etwa von Nicloux so gewollt ist, wage ich mich nicht zu beurteilen. Die Kenntnis der Vorlage von Denis Diderot wäre hier hilfreich gewesen. Mich hat es innerlich abgestoßen, dass Suzannes Leidensweg plötzlich zum Unterhaltungsfaktor wird. Im Grunde wird sie durch die Annäherungsversuche ebenso gedemütigt wie durch die Bestrafungen ihrer vorherigen Mutter Oberin und auch das offensichtliche Leid der Figur von Isabelle Huppert ist kein Grund zum Lachen. Wenn der Zuschauer den Respekt vor den Figuren verliert, droht auch die emanzipatorische Botschaft unterzugehen und das ist wirklich sehr bedauerlich.

Ist diese Botschaft einmal verloren, verliert der Film auch seine Daseinsberechtigung, denn Geschichten über Nonnen, die unter den Strengen Regeln des Klosterlebens und sadistischen Machtinhabern leiden, haben wir doch schon zu Genüge gesehen. Sicherlich stellt es eine willkommene Abwechslung dar, dass die sexuellen Übergriffe nicht durch einen Mann, sondern durch eine Frau verübt werden, doch davon abgesehen, konnte mir The Nun wenig Neues bieten. Daran kann auch die erwähnenswerte Schauspielleistung von Hauptdarstellerin Pauline Étienne nichts ändern.

Aber vielleicht bin ich beim Thema Kirche auch einfach sensibel. Vielleicht bin ich auch beim Thema Frauen einfach sensibel. Aber vielleicht ist das auch einfach gut so. 



Gloria


© Berlinale

Noch so ein Film für die Ü40-Generation, dachte ich mir heute morgen in der Pressevorführung von Gloria. Ja, solche Filme muss es auch geben, aber oft fehlt mir persönlich doch ein wenig der Zugang. Und dann kam alles anders: Gloria entpuppte sich als der perfekte Start in den Berlinale-Tag.

Im Grunde macht die 58 jährige Gloria (Paulina Garcia) genau das, was Single-Frauen auch in meinem Alter machen. Sie geht tanzen, sie flirtet mit Männern und sie gönnt sich sexuelle Abenteuer, wenn sie dem richtigen Kerl begegnet oder betrunken genug ist, um nicht so genau hinzuschauen. Und genauso wie wir jüngeren Frauen greift sie bei ihrer Männerwahl auch mal ins Klo. Und genau dort findet sie Rodolfo, mit dem sie einen kurzen zweiten Frühling erlebt, nur um dann noch härter auf dem Boden der Tatsachen aufzuschlagen. Doch Gloria lässt sich nicht unterkriegen.

Selten habe ich einen Film gesehen, der eine Frau derart komplex und vor allem stark portraitiert. Gloria ist für mich in allen Facetten absolut glaubwürdig. Als alleinstehende Frau sucht sie verstärkt den Kontakt zu ihren erwachsenen Kindern („Soy tu mamá“ – „Ich bin Deine Mutter“, sagt sie immer wieder), die diese Nähe zu ihrer Mutter im Grunde nicht mehr brauchen. Doch dies ist kein Film über den Abnabelungsprozess der jüngeren Generation, weshalb diese Facette der Hauptfigur nicht problematisiert wird. Gloria ist vielmehr als nur eine Mutter. Sie ist berufstätig, sie hat einen Freundeskreis, sie ist unternehmungslustig.

Gloria wirkt zu Beginn des Films ruhelos. Fast jeden Abend begibt sie sich in das Tanzcafé, flirtet offensiv und vor allem erfolgreich. Als sie Rodolfo kennenlernt, macht sie das nicht ruhiger. Nicht nur, weil die beiden viel gemeinsam unternehmen, sondern auch, weil Rodolfos starke Bindung an seine geschiedene Frau und die gemeinsamen erwachsenen Kinder immer wieder die neue Beziehung belastet. Das Besondere ist hier, dass Gloria niemals als Opfer erscheint und zwar deshalb, weil sie sich nicht zum Opfer machen lässt. Dennoch muss sie erst tief fallen, um ihre eigene Stärke und Unabhängigkeit zu begreifen. Dass sie am Ende beim Sturm auf die Tanzfläche ihre Brille abnimmt, ist für mich ein symbolischer Akt. Durch ihre zunehmende Sehbehinderung kann sie ohne Brille nicht mehr flirten. Sie tanzt jetzt nur noch für sich. Gloria braucht keinen Mann. Sie ist sich selbst genug.

Der chilenische Regisseur Sebastián Lelio setzt den Fokus ganz klar auf die weibliche Hauptfigur. Angeblich, so das Pressematerial, ist sie körperlich in jedem einzelnen Frame anwesend. Ich kann das nicht so recht glauben, würde mir den Film aber gerne noch einmal ansehen, um dies zu überprüfen. In jedem Fall wird die Geschichte durchgehend aus Glorias Perspektive erzählt. Auch wenn wir viele andere Figuren in verschiedenen Lebenssituationen kennenlernen, ziehen diese niemals die Aufmerksamkeit von der Hauptfigur ab. Paulina Garcia wird dieser zentralen Rolle gerecht und ihre überzeugende Darstellung macht sie definitiv zu einer Bären-Kandidatin.

Abgesehen von der Hauptdarstellerin hat mir auch Lelios Mut gefallen, die Geschichte einer Frau um die 60 ebenso explizit darzustellen wie die einer 20 jährigen. Es gibt mehrere durchaus freizügige Sexszenen, in denen wir die sichtbar alternden Körper von Gloria und Rodolfo in aller Deutlichkeit sehen. Dadurch entsteht immer ein Moment der Irritation, weil wir es einfach nicht gewohnt sind, nackte Körper zu sehen, die nicht unserem Ideal makelloser Schönheit entsprechen. Da die Kamera auf mich zu keinem Zeitpunkt voyeuristisch wirkt, die Protagonisten nicht zum Objekt der Belustigung des Zuschauers macht (ein Gefühl, das mich bei Paradies: Hoffnung mehrfach beschlich), formuliert Gloria ein starkes Statement dafür, dass auch einer Frau jenseits der 50 ein erfülltes Sexualleben zusteht. Das mag trivial klingen, ist es aber mitnichten.

Gloria ist aus feministischer Sicht in meinen Augen ein sehr starker Film, der im Wettbewerb ganz vorne mitspielt und neben der vorbildlichen Frauendarstellung auch noch immens unterhaltsam ist. Vor allem der Soundtrack hat es mir angetan. Ich würde mir sehr wünschen, dass es der Film eines Tages in unsere Kinos schafft. Aber irgendwas sagt mir, dass sich am Ende dann doch keiner für die Irrungen und Wirrungen einer 58 jährigen Frau interessiert...