Sonntag, 14. Februar 2010

Phobidilia

© Artza Productions/ Regie: Doron Paz, Yoav Paz
Die Berlinale ist ein internationales Filmfestival. Aus der ganzen Welt kommen Filmemacher und Filminteressierte um… im organisatorischen Chaos zu versinken. Mein erster Film begann heute eine halbe Stunde später als angekündigt. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass zahlreiche Leute ihren Anschlussfilm nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten, sondern auch, dass sämtliche Fluchtwege im Cubix durch die immense Wartschlange zum Kinosaal 9 verstopft waren. Statt uns die bequemen Semi-Liegesessel des Vorführungsraums anzubieten, wurden wir aus völlig unersichtlichen Gründen erst kurz vor Filmbeginn in den Saal gelassen. Dabei – ganz ehrlich – hätte ich in den bequemen Sesseln auch gerne länger als eine halbe Stunde auf den Filmbeginn gewartet! Herrlich! Leider funktioniert das System nur, wenn sich der Typ in der Reihe vor Dir auch richtig hinlegt. Sonst steckt sein Kopf nämlich mitten in den Untertiteln, was bei einem Film auf Hebräisch wirklich lästig sein kann.

Die Minuspunkte in der Organisation werden ausgeglichen durch die gut vorbereitete Q&A nach dem Film. Der Moderator ist gut informiert und kann an jeden Vertreter des Filmteams eine individuelle Frage formulieren – auch wenn nicht jeder Vertreter des Filmteams in der Lage ist eine solche Frage in verständlichem Englisch zu beantworten. Einen Übersetzer gibt es nicht. Dann darf auch das Publikum Fragen stellen, und zeigt mit Fragen wie „Ist die israelische Immobilienbranche wirklich so skrupellos wie im Film?“ dass es sich wirklich emotional auf diesen Film eingelassen hat. Noch getoppt wird diese Frage vom dem schon fast obligatorischen Kommentar eine Person gleicher Nationalität wie die Filmemacher, in diesem Fall eine Israelitin: „Wenn ich diesen Film sehe, bin ich stolz eine Israelitin zu sein!“ Aber darüber darf ich mich ja gar nicht lustig machen. Ich bin ja Deutsche. Als Deutsche darf man sich nicht über Israeliten lustig machen. Denn Israelis sind ja Juden. Über Juden darf ich keine Witze machen. Deshalb muss ich den Film sowieso gut finden. Guter Film!

Nein wirklich! Mir hat der Film sehr gut gefallen, ob israelisch, jüdisch oder was auch immer. Das einzige Manko stellte für mich die muskulöse Statur des Protagonisten dar. Für jemanden, der sich seit Jahren nur in seiner Wohnung aufhält und kein Home-Work-Out betreibt, war der Kerl doch recht schön anzusehen. Offensichtlich ist ihm das bewusst, denn er konnte es sich nicht verkneifen, während der Q&A auch auf seinen tighten body zu sprechen zu kommen.
Der Film war verstörend, weil er so wahr war. Die Fernsehbilder, die in der Wohnung des Protagonisten omnipräsent sind, sind überzogen und spiegeln doch in genau dieser Übertreibung die Realität unseres Nachmittagsfernsehens wider. Erschreckend. Das Chat-Cam-Girl, ewige Wichsvorlage des einsamen Helden, ist in ihrem Mädchentraum-rosa-plüsch-Bettchen eingesperrt, genauso wie der Protagonist in seiner Wohnung. Wie der Regisseur uns nach dem Film erklärt, geht es ihm darum, eine Generation zu zeigen, die sich lieber auf Facebook rumtreibt, als sich mit Freunden zu treffen. Das trifft mich natürlich mitten ins Herz. ICH gehe ja quasi nur zur Berlinale aus dem Haus.

Der Film hat mich fasziniert. Die Musik war klasse, die schauspielerischen Leistungen haben mich total überzeugt und die Tatsache, dass dieser Film mit einem einzigen Setting funktioniert – einem Wohnzimmer – zeugt davon, dass hier jemand etwas von seinem Handwerk versteht. Berührt hat mich auch die dargestellte Parallele zwischen der Wohnung und dem Mutterleib als Orte der Sicherheit und Geborgenheit gegenüber der chaotischen Welt außerhalb. Aber warum ziehen der Protagonist und wir eigentlich das Unterschichtenfernsehen dem angeblichen Chaos der Welt vor? Statt „We are Family“ zu gucken, kann ich doch auch einfach mal nachmittags über den Leopoldplatz laufen!!

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1 Kommentar:

  1. Wunderbar. Der Film. Und die scharfsinnige Analyse dazu!
    Ich mochte den Film von Anfang an (wegen der Musik) und bis zum versöhnlichen Ende (wegen der Musik). Ein herrliches Kammerspiel mit einem tollen Ensemble. Schade, dass der zweite männliche Hauptdarsteller, der schrullige Hausverwalter, nicht anwesend war.
    Ich liebe Filme, in denen irgendetwas zu sehen ist, was es vorher (so) noch nicht zu sehen gab. Matrix. Dogville. Sin City. Shaun das Schaf. So auch hier: wie das unablässig laufende TV im Wohnzimmer des Protagonisten dessen Leben scheinbar zufällig, doch immer passend kommentierte - wie die Faust aufs Auge, nicht wie der Deckel zum Topf. Ein Spaß!
    Ein Spaß auch der Kommentar eines der Regisseure zu den beiden weiblichen Hauptdarstellerinnen: das Cam-Girl, attraktiv, schlank und sexy - die Freundin des Protagonistin, eine "ganz normale Frau". Fettnäpfchen-Zielhüpfen nennt man das wohl.
    Alles in allem: ein großer Spaß. Film und Veranstaltung. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens der Film auch einen deutschen Verleih findet und in einer (hoffentlich) gut synchronisierten Fassung auch in deutscher Sprache zu sehen sein wird....

    Volkmar

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