Dienstag, 14. Februar 2012

Cherry


© Berlinale/ Regie: Stephen Elliot
 Angelina (Ashley Hinshaw) führt das klassische Leben eines Hollywoodfilm-Unterschicht-Teenagers. Die Mutter säuft, der Stiefvater ist mindestens aggressiv, wenn nicht gar sexuell übergriffig, aber letzteres wird nur angedeutet. Von ihrem Freund lässt sie sich überreden, Nacktfotos zu machen. Obwohl nicht unbedingt eine negative Erfahrung, ist dieses Ereignis der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und gemeinsam mit ihrem besten Freund Andrew (Dev Patel) flieht sie nach San Francisco, wo sie über den Umweg als Kellnerin in einer Strip-Bar zur Pornodarstellerin wird. Ihre aufkeimende Liebe zu dem Anwalt Frances (James Franco) wird im Keim erstickt, als sie entdeckt, dass dieser drogenabhängig ist.

Zunächst wirkt es interessant, dass das Pornogeschäft hier nicht auf die altebekannte, schmuddelige Art und Weise dargestellt wird. Die erste Person, die Angelina bei einer Porno-Produktionsfirma trifft, ist eine freundliche, fast mütterliche Figur. Auffällig ist auch, dass das Thema Drogensucht sich nicht innerhalb der Sphäre der Sexindustrie abspielt, sondern außerhalb. Frances ist der einzige, der die blutjunge Angelina mit illegalen Substanzen in Berührung bringt. Doch was zunächst wie eine revolutionäre Herangehensweise wirkt, die auf Überdramatisierung und den moralischen Zeigefinger konsequent verzichtet, wandelt sich in eine beunruhigende Beschönigung der Pornoindustrie. Der Film hinterlässt im Kopf der weiblichen Zuschauerin die Frage: Warum habe ich es eigentlich nie mit Sex vor der Kamera probiert? Eine Kritikerin flüstert der anderen zu: „Sollen wir jetzt alle umschulen?“ Und die Männer im Publikum begraben vermutlich gerade ihre letzten moralischen Skrupel und rennen direkt in die nächste Videothek, um sich „Blutjunge Fickdinger 3“ auszuleihen. 

Ein paar Stunden später bin ich immer noch irritiert vom Ausgang der Geschichte, doch die Skepsis beginnt sich in Erkenntnis zu wandeln. Handelt es sich hier vielleicht um ein unhappy happy ending, das uns bewusst irritiert, um zu demonstrieren, dass es sich bei der Geschichte gar nur um ein Märchen gehandelt hat? Zu unglaubwürdig ist am Ende die plötzliche Abwendung Angelinas von ihrem wohlwollenden Kumpel Andrew, der über beide Ohren in sie verliebt und die bestmögliche Partie ist. Dass sie sich in den letzten Filmminuten wie von Zauberhand vom Objekt zum Subjekt wandelt, von vor der Kamera hinter die Linse tritt, ist eine derart vereinfachte Konklusion, dass es uns verunsichern muss. Wir sind gezwungen dieses Ende zu hinterfragen, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die Frage ist nur: Machen das alle Zuschauer? Oder rennen die Männer dennoch alle in die nächste Porno-Videothek? 

Heather Graham bildet mit ihrer Darstellung einer lesbischen Pornoregisseurin für mich den schauspielerischen Höhepunkt, während James Franco der Rolle entsprechend verbraucht aussieht und beim Sprechen kaum die Zähne auseinanderkriegt. Hauptdarstellerin Ashley Hinshaw sieht in erster Linie verführerisch aus. Die Inszenierung ihrer Figur schafft es aber leider nicht, uns ihr wirklich nahe zu bringen. Zu wenig nachvollziehbar ist ihr von jedem Zweifel befreites Hineintauchen in die Sexarbeit. 

Obwohl es der Film trotz seines Themas erstaunlich gut vermeidet, voyeuristisch oder pornographisch zu sein, bleibt Angelina doch nur ein Objekt, das wir uns gerne ansehen, statt einer Figur, mit der wir uns identifizieren. Während auf die Stereotypen des Pornobusiness verzichtet wird, werden locker flockig alle Stereotypen der Unterschichtenexistenz abgearbeitet. Und auch James Francos Charakter - der gescheiterte Künstler mit ödipalem Konflikt, der sich seinen Frust in Puderform durch die Nase zieht – bleibt im Prinzip nur eine hohle Konstruktion. 

So ist Cherry zwar ein kurzweilier Film, aber auch ein moralisch höchst zweifelhaftes Werk, das für das Thema unangemessen seicht daher kommt. Mir ist es dann wohl doch lieber, wenn die Pornoindustrie im Film stereotyp mit Drogensumpf und Misshandlungen einhergeht, als dass sie derart auf Hochglanz poliert wird wie in diesem Film.


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